Ohne Strafe - Unser Versuch, Familie anders zu leben

Ohne Strafe - Unser Versuch, Familie anders zu leben

Wäre es nicht großartig, wenn wir unsere Familien so leben könnten, wie wir es möchten und es zu uns passt? Ohne Angst, etwas falsch zu machen und ohne einen sch… darauf zu geben, was andere davon halten? Danach zu leben, was wir brauchen und uns gut tut?

Wie das ist und wo uns das gelingt, darüber zu berichten, hat Lena Kampfhofer in ihrer Blogparade  „Individuell, frei, selbstbestimmt - So leben wir als Familie“ aufgerufen. Danke dir Lena für diesen Impuls.


  1. Eine ganz normale Familie
  2. Kurswechsel im Kopf
  3. Ein völlig neuer Ansatz
  4. Bedürfnisorientierte Lösung statt Strafe
  5. Einfach, aber nicht leicht
  6. Viel Geduld, aber es lohnt sich

1. Eine ganz normale Familie und auch anders

Wir sind eine ganz normale Familie. Zumindest, wenn normal heißt, vieles so zu machen, wie andere auch. Wir streiten und vertragen uns, wir verbringen gerne Zeit miteinander und gehen uns auch fürchterlich auf die Nerven, wir wollen oft das gleiche und manchmal so gar nicht.

Als Eltern treffen mein Mann und ich unsere Entscheidungen sicher nicht immer frei und selbstbestimmt und schon gar nicht individuell. Weil wir uns auch an „den anderen“ orientieren. Weil wir es gut machen wollen. Damit unsere Kinder selbständig und zufrieden sind und gut klar kommen im Leben.

Manchmal treffen wir aber auch Entscheidungen, die uns und unser Leben anders machen. Anders als es unsere Eltern und Großeltern gemacht haben und anders als es viele Eltern heute noch machen. Wir haben vor ein paar Jahren entschieden, damit aufzuhören, unsere Kinder zu bestrafen.

2. Kurswechsel im Kopf

Die Strafe ist eine Konsequenz aus einer bestimmten Art zu Denken. Ein Denken, das Verhalten und Menschen in gut oder schlecht einordnet. Ein Denken, das darüber urteilt, was passend oder unpassend,  normal oder unnormal ist. Ich entscheide was richtig und falsch ist. Und wenn etwas falsch ist, dann muss sich das in richtig verändern.

Strafe heißt für mich, dass ich entscheide, welches Verhalten unangemessen ist und das meinen Kindern klar mache, indem ich sie in eine unangenehme Situation bringe. In der Hoffnung, dass sie spüren, etwas falsch gemacht zu haben, einsichtig sind und sich ändern. Sie sich in Zukunft also richtig verhalten.

 

So habe ich lange gedacht und geglaubt, dass ich durch Strafen meine Kinder dazu bringe, sich gut, passend, normal, richtig zu verhalten. Bis mir die Gewaltfreie Kommunikation begegnet ist, die mein Denken, mein Handeln und damit auch den Umgang mit meinen Kindern verändert hat.

3. Ein völlig neuer Ansatz

Durch die Gewaltfreie Kommunikation ist mir klar geworden, dass es kein richtig und falsch gibt. Sondern dass eine Situation oder ein Verhalten gerade nur nicht so ist, wie ich es gerne hätte. Dadurch konnte ich meine Kinder und ihr Verhalten plötzlich anders sehen.  

Sie verhalten sich nicht schlecht, unpassend oder unnormal und erst recht sind sie nicht so. Sie leben ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse aus und das auf ihre Weise. Nichts daran ist falsch. Nichts daran gibt mir das Recht, sie zu bestrafen.

 

Eine für mich bahnbrechende Erkenntnis. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, wie meine Kinder etwas machen und warum sie es machen.

Sie machen die Dinge, die sie machen - und die mich nerven, frustrieren, erschöpfen, wütend und hilflos fühlen lassen - nicht, weil sie respektlos und egoistisch sind oder weil sie mich provozieren und ärgern wollen. Sie machen die Dinge, die sie machen, weil etwas anders ist, als sie es sich wünschen. Weil sie etwas brauchen und dafür sorgen wollen, dass sie es auch bekommen. Dabei wählen meine Kinder Strategien, die für sie gerade das Beste sind, um sich ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Dass diese Strategien nicht immer auch die Besten in meinen Augen sind, kannst du dir sicher vorstellen.

 

Die Herausforderungen, die ich mit meinen Kindern habe, liegen also nicht in deren Warum. Es ist ihr Wie, das sich nicht mit meinem Wie (ich es gerne hätte) deckt. Ich kann sehr gut verstehen, dass es ihnen wichtig ist, selbstbestimmt zu sein. Ich bin gleichzeitig nicht damit einverstanden, wenn sie nicht zur verabredeten Zeit zu Hause sind. Es ist völlig ok, dass sie ihre Ruhe brauchen. Es ist nicht ok für mich, wenn sie mich mit den Worten anschreien „Geh‘ raus, du nervst.“  Ich teile ihr Bedürfnis nach Spaß und Leichtigkeit. Ich teile jedoch nicht ihre Ansicht, dass das bedeutet, ihre Aufgaben im Haushalt liegen zu lassen.

Ihre Weise, sich Bedürfnisse zu erfüllen, kollidiert oft einfach nur mit den Strategien, die ich wählen oder lieber sehen würde.  

4. Bedürfnisorientierte Lösung statt Strafe

Genau dort ist der Punkt, an dem ich ansetze. Ich gebe dem Impuls, meine Kinder zu verurteilen, ihnen Vorwürfe zu machen oder sie zu bestrafen, so wenig Raum wie möglich. Ich stelle meinen Ärger, meine Enttäuschung oder meinen Frust zur Seite – darum kann ich mich später kümmern – betrachte meine Kinder und denke: „Das Verhalten gefällt mir nicht. Das entspricht gerade nicht meinen Vorstellungen oder meinen Werten.“ Und ich frage mich: „Warum verflixt nochmal machen sie das?“ Ich gebe zu, nicht immer liegt die Antwort für mich auf der Hand. Das Gute ist, ich kann mit meinen Kindern reden und sie fragen. Inzwischen sind sie geübt darin, zu erkennen, worum es ihnen geht und können es meistens benennen. Manchmal erarbeiten wir es auch gemeinsam.

 

Sobald klar ist, was ihr Bedürfnis ist, entspannt sich die Aufregung bei mir. Ich kann ihr Bedürfnis respektieren und habe mehr Verständnis für sie und ihr Verhalten. Das bedeutet nicht, dass ich sie weiter machen lasse, wie es ihnen gerade passt.  Das bedeutet, dass ich ihre Bedürfnisse ernst nehme und entweder selbst oder mit ihnen zusammen überlege, was wir verändern können.

 

Am Liebsten sind mir natürlich die Lösungen, mit denen wir alle das bekommen, was wir wollen. Auf jeden Fall lasse ich meinen Kindern ihr Warum und vereinbare oder bestimme ein anderes Wie.  

5. Einfach, aber nicht leicht

Im Idealfall münden unsere Konflikte darin, dass wir einen Weg finden, meine Bedürfnisse und die meiner Kinder in Einklang zu bringen. Das klappt nicht immer. So einfach die Entscheidung ist, meine Kinder ohne Strafe zu begleiten, so leicht ist sie in der Umsetzung nicht. Es erfordert von mir nicht nur die Bereitschaft, meine Haltung zu ändern, sondern auch an meinen eigenen Themen zu arbeiten:

Wenn es den Kindern an Offenheit für meine Perspektive fehlt und sie schlicht weg keine Lust haben, mit mir zu kooperieren, dann laufe ich wie vor eine Betonwand und wir stecken fest. Das geht sehr oft damit einher, dass mir selbst gerade die Offenheit oder die Geduld für meine Kinder fehlt. Niemand hält mir den Spiegel so schonungslos vor Augen wie meine Kinder.

Wenn ich das, was meine Kinder sagen oder machen persönlich nehme, dann falle ich in alte Muster zurück, bewerte ihr Verhalten als falsch, werde vorwurfsvoll oder ziehe mich beleidigt zurück. Das lässt unseren Konflikt eskalieren.

Wenn ich nicht merke, dass alte Wunden bei mir aktiviert sind, dann habe ich keinen klaren Blick auf das Verhalten meiner Kinder. Ich projiziere meine Ängste und Sorgen auf sie und beschränke damit unseren Lösungsraum.

 

Klar fühle ich mich damit nicht gut, aber wenn ich eines in den letzten Jahren gelernt habe, dass ich hinterher auf meine Kinder zugehen und ihnen sagen kann „Es tut mir leid. Können wir neu starten und es nochmal versuchen?“ Bisher haben wir immer noch einen Weg zueinander und eine Lösung gefunden.

6. Viel Geduld, aber es lohnt sich

Ich brauche viel Geduld und einen langen Atem, um meine Kinder auf diese Weise in ihrem Leben zu begleiten.  Es wäre sicherlich wesentlich effizienter und effektiver, mit Strafen zu arbeiten. Kurzfristig vielleicht. Den Preis, den meine Kinder dafür bezahlen würden, ist es mir aber nicht wert. Ich hätte Kinder, die ihre Entscheidungen danach treffen, ob sie Angst haben müssen, bestraft zu werden. Die nur deshalb „Ja“ sagen, weil sie sich nicht trauen, „Nein“ zu sagen. Die ihre Erlebnisse, Sorgen und Schwierigkeiten verheimlichen, weil sie die Konsequenzen fürchten.

 

Ich arbeite lieber weiter an mir und meiner Geduld. Für meine Kinder. Damit sie lernen, selbstbestimmt für ihre Bedürfnisse einzustehen und gleichzeitig die Bedürfnisse anderer zu respektieren. Dafür lohnt es sich.

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Kommentare: 1
  • #1

    Ulrike Storny (Montag, 19 Juni 2023 07:17)

    Liebe Marianne, vielen Dank für den Artikel! Strafen sind auch nicht meins und tatsächlich kann ich mich gar nicht erinnern, dass ich meinen Sohn einmal bewusst bestraft habe. Vor allem in den letzten Jahren sicher nicht, als ich allein mit ihm in einem Haus gelebt habe. Wie du sagst, es braucht eine Menge Geduld, bis ich meine Wünsche und Vorstellungen umgesetzt habe, aber ich habe auch gelernt, dass das Gegenüber eben manchmal nicht so will wie ich. Und bis er dann will, muss ich halt Geduld haben. Oder es selbst machen oder es laufen lassen. Auch dann geht die Welt nicht unter. Nicht immer sind Wünsche und Vorstellungen vereinbar.
    Liebe Grüße und nochmals danke für die Einblicke! Ulrike